Der Startschuss für die Reise
"Nein, ich habe nicht die Schnauze voll von Deutschland und ich war auch nicht unglücklich in meinem bisherigen Leben.“
Eine der Fragen, die mir am meisten gestellt wird, ist die nach einem Auslöser. Wie kommt man dazu, sein geordnetes Leben so radikal umzustellen? War es die Pandemie oder war es unerträglich in Deutschland? Es ist viel einfacher. Die Antwort lautet: Ich wollte es schon immer. Der Wunsch steckte all die Jahrzehnte in mir drin. Nur der Zeitpunkt war nicht klar – aber absehbar. Meine Kinder waren schon eine ganze Weile groß genug und fest im eigenen Leben.
Aber da war noch mein Vater. An Parkinson erkrankt, den Tod seiner Frau, meiner Mutter, fünf Jahre zuvor, hatte er nie verarbeitet. Wie auch. Sie waren über 55 Jahre miteinander verheiratet, ein ganzes Leben. Es war bewundernswert, wie liebevoll er sich nach ihrer Alzheimer-Erkrankung um sie gekümmert hatte. Aber es war auch eine Aufgabe für ihn. Und dann plötzlich ist sie nicht mehr da. Da bricht alles zusammen.
Ich war sein Hauptbezugspunkt. Immer für ihn da. So hatte ich es von seiner Seite aus mir und unserer Familie gegenüber erlebt. Sein größtes Bestreben war es immer, die Familie zusammenzuhalten. Leider hat das nicht funktioniert. Das prägt und es hat mich geprägt. Mir war klar: Nie hätte ich ihn allein lassen können. Er kannte mich und er wusste, was mich umtreibt. Oft haben wir über meine Reisen, die ich schon immer gemacht habe, gesprochen. Und immer wieder hat er gesagt: „Pit, Du kannst doch gehen, ich komme zurecht!“. Nein, ich hätte nicht gehen können.
Am 12. Januar 2020 ist er gestorben und ich war bei ihm im Krankenhaus. Sie hatten mich morgens um kurz nach 6:00 Uhr angerufen, dass es jetzt zu Ende geht. Ein paar Stunden später hatte er es geschafft. Kein Mensch hatte mehr Einfluss auf mich, zu niemandem habe ich mehr aufgeschaut und keiner war mehr Vorbild für mich als mein Dad. Und auch jetzt auf meiner Reise ist er mein fester und stetiger Begleiter. Ich spüre, nein ich weiß, dass er dabei ist.
Soll ich oder soll ich nicht?
Jetzt war es klar und die Voraussetzungen waren gegeben. Aber wie genau sollte es aussehen? Ich machte mir Gedanken, spielte ein paar Möglichkeiten durch und je mehr ich überlegte, umso unsicherer wurde ich. Ich hatte doch alles, was ein Mensch so braucht: ein fantastisches Umfeld, Freunde, Bekannte, Hobbys und einen Job, der mich ausfüllte und der Spaß machte. Und das will ich aufgeben? Was für ein Unsinn!
Nein, verdammt! Schon das ganze Leben machte ich damit rum. Jetzt kann ich es tun und wenn ich es jetzt nicht mache, wird es nie etwas. Denn Gründe, es nicht zu tun, wird es immer geben. Okay, aber was ist, wenn es nicht klappt, wenn ich mittendrin aufgeben muss.
Das sind sie, diese typischen Bedenken und vielleicht sind es auch Ausreden.
Zu dem Zeitpunkt stolperte ich über einen der abertausenden Sprüche, die es so gibt und die einem das Leben beleuchten sollen. Dieser war von Thomas Alva Edison:
„Ich bin nicht gescheitert! Ich habe 10.000 Wege entdeckt, die nicht funktioniert haben.“
Ich denke, es ist gut und wichtig, sich Gedanken über einschneidende Dinge im Leben zu machen. Nur dürfen einen diese Gedanken nicht lähmen. Und ich hatte in den letzten Jahrzehnten doch zigmal die Erfahrung gemacht, dass meine Bereitschaft, gewisse Risiken einzugehen, letztendlich immer positiv ausging.
Ich verlasse Deutschland - Aufbruch nach Spanien
Es war Donnerstagfrüh, 18. März 2021. Die Nacht war kurz und der Schlaf nicht wirklich gut. Ich hatte wohl mehr so vor mich hin gedöst und sogar den Wecker am Handy auf 3:30 Uhr gestellt. Es hatte nicht viel gebraucht, um mich aus meinem Schlafsack zu bringen. Cookie, die Gute, wusste auch nicht so genau, wie ihr geschah und wahrscheinlich dachte sie so für sich: „Was hat der Alte denn jetzt schon wieder“.
Inzwischen war Nachmittag, ich hatte Frankreich fast durchquert und war bei Perpignan, kurz vor der spanischen Grenze:
Plötzlich tauchten sie auf, wie aus dem Nichts. Ich war auf der linken Spur, vier Polizei-Motorräder waren hinter mir. Ich fuhr rechts rüber, um ihnen Platz zu machen. Zwei von ihnen überholten mich, setzten sich vor mich und blieben dort. „Douane“ stand deutlich sichtbar auf ihren Jacken, das war der Zoll. Die anderen zwei blieben direkt hinter mir. Okay, mir wurde klar, die wollen mich. Einer von denen vor mir zeigte mir mit Handzeichen, dass ich ihnen nachfahren sollte. Von vier Polizei-Motorrädern wurde ich auf den nächsten Parkplatz eskortiert. Ein blödes Gefühl.
Wir fuhren auf den Parkplatz. Mein Lotse deutete nach links auf eine der Parkbuchten, die schräg zur Fahrbahn markiert waren. Die zwei vorderen Motorräder waren neben mir und einer stellte sein Motorrad direkt hinter mein Auto. „Die wissen schon, was sie tun“, dachte ich mir. Sie stiegen ab, ich blieb erstmal im Auto. Einer kam zu mir, das Fenster hatte ich geöffnet. Er sprach mich in einem guten, sehr verständlichen, Deutsch an und begrüßte mich in einem freundlichen Ton. Wohin ich fahren würde, wollte er wissen. Seine Kollegen warfen Blicke ins Auto. Cookie bellte, es ist ihr Job und den macht sie gut.
Ich wusste, dass ich eigentlich nicht so ohne weiteres nach Spanien einreisen durfte. Im Internet gab es Foren, die mehr oder weniger verwendbare Tipps hatten, wie man argumentieren kann, dass man trotzdem rein darf nach Spanien. Ich hätte lügen müssen. Will ich das? Will ich selbst angelogen werden? Würde ich merken, wenn mich einer anlügt? Mit ein paar geschickten Gegenfragen kriegst Du jeden Lügner blank.
Ich entschied mich, bei der Wahrheit zu bleiben. Entweder oder. Ehrlich kann nicht falsch sein und im worst case müsste ich die Konsequenzen tragen. In dem Fall würde das bedeuten: Zurück nach Deutschland. Die Zeiten waren in diesen Monaten nicht einfach.
„Ich möchte nach Spanien, mir Katalonien anschauen“, sagte ich dem Zöllner, der Deutsch sprach. „Ich mache eine Reise, halte mich aber an die Corona-Regeln“, ergänzte ich.
Ob ich wüsste, dass es von Barcelona aus eine Fähre nach Mallorca gibt, fragte mich der Polizist, mit einem leichten Grinsen im Gesicht. Es dauerte ein paar Sekundenbruchteile, bis ich den Ball aufnahm. Das war die Brücke, die er mir baute. Denn Mallorca war offen für Besucher und Transit war auf EU-Ebene sowieso erlaubt. Die wollten mir nichts Böses, sie machten nur ihren Job. Und das auf eine offene, freundliche Art. Ein Wohnmobil hätten sie wahrscheinlich gar nicht angehalten. Bei mir ist aber auf den ersten Blick nicht ersichtlich, dass ich einfach nur ein Reisender bin.
Sie besprachen sich, einer von ihnen war der Chef. Er hörte sich an, was sein Deutsch sprechender Kollege ihm erzählte, und darüber unterhielten sie sich. Ihre Gesichtszüge blieben ernst, aber verständnisvoll. Der „Deutsche“ schien sich für mich einzusetzen und wendete sich wieder an mich.
Sie wünschen mir eine gute Weiterfahrt. „Auf Wiedersehen“, sagte er. Sie stiegen auf ihre Motorräder und fuhren los. Ich atmete tief durch. „Was war das denn?“, dachte ich für mich.